Weinen erleichtert
Weinen entlädt wie ein Sommergewitter die angestaute Spannung
Kennst du das Gefühl der Erleichterung nach dem Weinen? Der Kopf ist wieder klarer, der ganze Körper entspannter. Eine Last ist abgefallen. Mich erinnert diese innere Stimmung an den Moment kurz nach einem Sommergewitter. Tränen waschen Stresshormone aus dem Körper. Weinen kann Druck abbauen und helfen, intensive Gefühle zu verdauen. Wenn wir uns das Weinen untersagen oder vielleicht sehr früh im Leben gelernt haben, dass wir nicht weinen dürfen, fällt diese natürliche Art der Selbstregulation weg. Aber egal was der Kopf drüber denkt, in der Körperarbeit kommen die Tränen endlich ins Fließen, die noch darauf warten, geweint zu werden. Danach ist Erleichterung.
Vor kurzem habe ich mit meinem eineinhalb-jährigen Neffen den Nachmittag verbracht. Beim Anblick des Pflasters an seinem Oberschenkel musste er plötzlich herzzerreißend weinen. Ich war überrascht und habe mir schnell zusammengereimt was er — ohne schon die Worte dafür zu haben — sagen wollte: „Heute habe ich eine Spritze bekommen und ich habe mich gefürchtet und dann hat es auch noch weh getan. Susanne, das war schrecklich!“
Dazu möchte ich dir zwei Fragen stellen:
Kannst du weinen, wenn dir danach ist?
und
Wie geht es dir wenn jemand vor dir weint?
Zum Thema selbst weinen kann ich einiges erzählen.
Darüber wie anstrengend es ist, wenn man Schmerzen hat oder verzweifelt ist aber nicht weinen kann. Dann baut sich innerlich immer mehr Spannung oder Intensität auf aber die Erleichterung tritt nicht ein.
Wie betäubt wir uns fühlen, wenn eine Emotion fast nicht oder gar nicht in dem Moment gefühlt werden kann, in dem sie entsteht.
Wie traurig es ist, nur halb zu weinen und danach keine Erleichterung zu finden.
Karin kam zu mir, weil sie sich „einfach nicht spürte.“ Nach zahlreichen Operationen und Phasen von Angst davor, nie wieder beruflich wieder Fuß zu fassen, kam sie zur ersten Sitzung. Ihr wurde geraten über ihren Körper wieder mehr in Balance zu finden. Ich habe bemerkt, wie Karin versucht hat ihren Schmerz und ihre Tränen ganz automatisch hinunterzuschlucken.
Frage dich: Wie oft machst du das eigentlich? Deine Tränen hinunterschlucken bis vielleicht der Hals brennt oder die Augen?
Meine Beobachtung dazu ist, dass Erwachsene, aber auch schon Kinder das oft machen.
Karin wurde das jetzt auch klar. „Spüre im Körper wie du deine Tränen hinunterschluckst.“ Besonders im Hals, der eng wurde, und im Brustkorb, der kaum noch Atmung zugelassen hat, hat sie die Anstrengung wahrnehmen können. Im Körper war eine Blockade aufgebaut gegen den Tränenfluss.
Warum halten wir unsere Tränen zurück, wenn sie doch schon am Fließen sind?
„Reiß dich zusammen.“ „Das belastet die anderen.“ „Ich verstecke das immer.“ „Sie werden lachen.“ „Darüber habe ich schon genug geweint.“ Mit ähnlichen Begründungen schlucken wir die Tränen hinunter. Eigentlich bleibt keine dieser Begründungen wichtig, wenn wir uns erst eingestehen, was uns gerade wirklich bewegt.
Karins Ziel war es, wieder zu fühlen. Sie wollte ihre Wut, ihre Trauer aber auch ihre Freude spüren um wieder lebendiger zu werden und Schritte zurück in ein erfülltes Leben zu machen.
Hier hat sich ein erster Schritt angeboten. Die Tränen sind Karin bis zum Hals gestanden. Ich konnte sie schon in ihren Augen erahnen. Karin hat sich darauf eingelassen. Nach Jahren mit fast keinen Tränen hat sie sich jetzt dazu entschieden, mit ihrem Körper zusammen zu arbeiten.
Ich habe dabei noch ein paar Anleitungen angeboten wie: Spüre wie eng du deinen Hals machst. Ja genau. Erlaube dir Platz. Erlaube, dass dein Hals wieder etwas lockerer wird und nimm einen vollen Atemzug. Und noch einen…
Die Tränen sind über die Wangen gekullert und ich habe Karin dazu ermutigt immer wieder einen Atemzug zu nehmen und den ganzen Körper noch mehr loszulassen. Langsam haben sich ihre Schultern entspannt und ihr gesamter Körper.
Danach war Erleichterung zu spüren. Emotional aber auch körperlich.
In den weiteren Sitzungen sind immer wieder mal Wellen von Emotionen ins Rollen gekommen und damit noch mehr Tränen.
Beim Weinen bekommen wir die Chance loszulassen, Emotionen zu verdauen und danach den nächsten Schritt zu machen. Und ich habe gelernt mich dabei immer mehr auf meinen Körper einzulassen. Der eigene Körper ist ein Meister darin, Emotionen zu fühlen und zu verdauen. Der Körper ist eine Ressource, die manchmal erst wieder entdeckt werden muss.
Wie geht es dir, wenn jemand vor dir weint?
Mein Neffe hat seine kleinen Beinchen angezogen, schaut mich an und weint.
Hast du schon mal beobachtet, was sich in dir tut, wenn jemand vor dir weint?
Hörst du dich sagen: „Ist schon wieder gut.“ Oder „Ist ja alles halb so schlimm.“ Um den anderen zu trösten? Drängt alles in dir das Weinen so schnell wie möglich zu beenden? Oder vielleicht geht es dir wie mir mit meinem Neffen und du bemerkst den starken Impuls dem anderen den Schmerz abnehmen zu wollen.
Ich weiß nicht mehr wie viele hunderte Male ich Klienten in einer Sitzung weinen erlebt habe. Und da kann ich sehr präsent sein und diese Menschen dabei unterstützen, ihre Tränen zu erlauben. Aber mit meinem kleinen Neffen, da konnte ich ganz klar erkennen wie ein Programm in mir ansprang: ALLES TUN UM DAS WEINEN JETZT ZU BEENDEN!
Dabei war mir doch gleichzeitig so klar, dass er gerade etwas verarbeitet – etwas verdaut. Vielleicht einen Rest von Angst und Schmerz aus dem Moment beim Arzt.
Ich habe es geschafft ihn nicht abzulenken oder vorschnell zu beruhigen. Ich habe meinem Impuls nicht nachgegeben, ihn dazu zu bringen jetzt mit dem Weinen aufzuhören.
Statt in diesen natürlichen Vorgang einzugreifen, war ich für ihn da. Ich habe ihm zugehört. Ich habe Worte gefunden für seine Empfindungen. Ich habe ihn gehalten. Ich habe seinen Schmerz und seine Angst auch wahrgenommen. Wir waren miteinander. Danach waren wir beide etwas aufgewühlt – schließlich ging es um intensive Emotionen – aber auch Erleichterung war jetzt da. Ich war froh, dass er das so loswerden konnte. Und, wie es bei Kindern so oft der Fall ist, war er kurz darauf wieder ins Spielen vertieft und hat später mit viel Appetit seine Banane gegessen. Gefühle verdauen macht hungrig!
Gefühle gehören gefühlt. Weinen ist ein Weg.
Ich habe mich in dem Moment selbst daran erinnern müssen zu atmen und meine Füße am Boden zu spüren. So war es dann leichter ganz präsent mit ihm zu bleiben, für ihn da zu sein und ihm gleichzeitig Freiraum und Zeit für sein Weinen zu geben. In diesem Fall hat mein Neffe relativ schnell selbst wieder ein Ende im Weinen gefunden und ich habe gespürt, dass der Sturm vorbei war.
Springt in dir auch Schmerz, Trauer oder Angst hoch, wenn andere weinen?
Dann bist du nicht der/die Einzige. Wie kannst du in so einem Moment gut auf dich selbst achten? Indem du einen vollen Atemzug machst. Du kannst dich auch daran erinnern deinen Körper zu spüren wie zum Beispiel deine Fußsohlen am Boden.
Vielleicht gibt es einen Moment, in dem du deutlich merkst, dass noch zusätzliche Hilfe nötig ist. Dann kannst du auch dafür sorgen.
Berührt dich das Weinen anderer auf belastende Weise?
Für mich gibt es einen Unterschied zwischen berührt sein und mitleiden. Mitleiden hilft dem anderen nichts und belastet den, der mitleidet. Mitleiden können wir stoppen lernen, wenn es zur Last wird.
Wenn mich das Weinen anderer unangenehm berührt habe ich einige Möglichkeiten:
- Ich kann in mich hinein spüren. Denn manchmal meldet sich in mir ein alter Schmerz oder ein Gefühl, das verdaut werden möchte.
- Ich kann mich daran erinnern so einzuatmen, dass meine Rippen nach außen hin in Bewegung kommen können und der Lunge Platz machen und beim Ausatmen Spannung im Körper bewusst loslassen.
- Ich kann das Thema in eine Grinberg Sitzung mitnehmen und so neue Möglichkeiten finden.
- Ich kann jemanden, der in solchen Fällen gut zuhören kann, anrufen und mich ausreden.
Wenn Tränen fließen, bringen sie so einiges mit in Fluss. Du kannst dir selbst die Fragen, die ich in den Text gestreut habe, stellen und damit nachdenken, wie du zum Weinen stehst. Und wenn du dann neugierig auf mehr bist, melde dich gerne für eine Sitzung bei mir.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen Sommergewitter zu genau den Zeiten, in denen wir sie brauchen.